Leidenschaft Okzitanien
Französische Lebensart und "savoir-vivre"
Die Art des Lebens der Französinnen und der
Franzosen wird von vielen Menschen, die in einem anderen Land leben, oft
bewundert. Man assoziiert Begriffe wie Sonne, Düfte, Farben, Wärme,
Wein, Käse, Cognac, Mode, Kultur, Chansons, gutes Essen ... mit unseren
westlichen Nachbar, meistens so, wie wir es in den wenigen Wochen Urlaub in
diesem Land wahrnehmen und selber erleben und was wir als "savoir-vivre"
benennen. (Die Franzosen verstehen übrigens unter "savoir-vivre"
eher "gutes Benehmen und gute Umgangsformen".) Aber ist der französische
Alltag wirklich so? Ja und nein! Richtig ist, Franzosen sind Genießer, sie
lieben die Geselligkeit, Fröhlichkeit, Gelassenheit, Freude, Unbekümmertheit.
Und natürlich spielt in diesem Zusammenhang das Essen und Trinken eine ganz
wichtige Rolle. Sich an einen Tisch zu setzen, ist für die Franzosen weit
mehr als reine Nahrungsaufnahme, es ist Zusammensein, Entspannung, Unterhaltung
und Genuss.
Die Lebensart unserer westlichen Nachbarn unterscheidet
sich vor allem darin von unserer, dass viel Dinge leichter gesehen und
hingenommen werden. Das Familienleben und die gesellschaftlichen Kontakte sind
sehr, sehr wichtig. Das erkennt man u.a. auch daran, dass an bestimmten
Feiertagen wie Ostern oder Weihnachten die ganze Familie zusammenkommt und
gemeinsam das Fest feiert (natürlich mit viel Essen und Trinken und ausführlichen
Gesprächen). Und dabei geht es viel "gemütlicher" und "zwangloser"
zu, da wird gemeinsam eingekauft, gemeinsam gekocht, gemeinsam die Küche
aufgeräumt. Man hat Zeit.
Das Gespräch mit dem Nachbarn, das Boule-Spiel auf
dem Dorfplatz, der "Ratsch" beim Bäcker oder im Zeitungsladen
sind aus dem Tagesablauf nicht wegzudenken. Man nimmt sich einfach die Zeit. Das
ist "savoir-vivre" und das müssen wir ("Ausländer")
erst einmal lernen, auch im beruflichen Alltag. Für jeden französischen
Geschäftsmann wird erst einmal ein gemütliches Ambiente, ein gutes
Glas, ein bisschen "Smalltalk" wichtig sein, bevor er knallhart
verhandeln wird. Und wehe, der (deutsche) Geschäftspartner schaut unruhig
auf seine Uhr!
Noch ein paar Worte zu der Feierlust der Franzosen. Ja,
die Franzosen feiern gern, überall und alles. Die Anzahl der
Feierlichkeiten, Feste, Veranstaltungen, Feiertage, Versammlungen ob kulturell,
traditionell, sportlich oder kulinarisch ist enorm groß. Neben den herkömmlichen
Festen wie Fasching ("Mardi Gras et Carnaval"), Ostern ("Pâques")
und Weihnachten ("Noël"), den Gedenktagen zum Ende des 1. und des
2. Weltkrieges ("L`armistice"), dem Nationalfeiertag am 14. Juli ("Fête
nationale"), dem Tag der Arbeit ("La Fête du travail") ...
feiern die Franzosen noch eine ganze Reihe weiterer Feste. Ich will hier nur ein
paar aufzählen: "Fête de la Musique" am 21. Juni, "Fête
des Grand-Mères" am 1. Sonntag im März, "Fête des
Grand-Pères" am 1. Sonntag im Oktober, Muttertag und Vatertag, "Epiphanie"
(Fest der drei heiligen Könige) am 6. Januar, "La Chandeleur"
(Maria Lichtmess) am 2. Februar ... Daneben gibt es fast in jedem Dorf ein
eigenes mehrtägiges Dorffest, viele Vereine feiern im Laufe des Jahres ihr
Vereinsfest (allein in unserem 500-Seelen-Dorf gibt es mehr als 25 Vereine),
Winzer, Bauern, Fischer feiern große Feste usw. usw. Und alle diese
Angenehmlichkeiten sind fast immer verbunden mit Essen und Trinken, mit einem
Aperitif vorher oder nachher, mit vielen Gesprächen, mit Zusammensein und
Geselligkeit. Das ist "savoir-vivre".
Doch will ich nicht verhehlen, dass der französische
Alltag auch anders ausschaut. Viele Französinnen und Franzosen haben neben
ihrer eigentlichen Beschäftigung noch mindestens einen weiteren Nebenjob um
finanziell über die Runden zu kommen und um sich diese vielen
Annehmlichkeiten überhaupt leisten zu können. Oft wird das halbe Jahr
gespart, um dann bei den großen Familienfesten seinen Lieben etwas
besonders bieten zu können oder um gemeinsam mit den Angehörigen ein
festliches Ereignis besuchen zu können. Solidarität spielt im Leben
(zumindest der ländlichen Bevölkerung) dann auch eine ganz große
Rolle. Man hilft sich, wenn "Not am Mann" ist. Wenn zum Beispiel ein
Weinbauer wegen Krankheit seine Weinfelder nicht schneiden oder ernten kann,
dann kommen an einem Samstag die anderen Weinbauern des Dorfes und andere
Bewohner zusammen und erledigen ohne große Worte diese Arbeit - und danach
gibt es ein gemeinsames Essen - auch das ist "savoir-vivre".
Franzosen sind normalerweise geduldige Menschen. Meist
lebt man getreu dem Motto: "Laisser pisser les moutons!" (ungefähr
soviel wie, "Regen Sie sich nicht auf, lassen Sie die Dinge wie sie sind.").
Doch wehe, wenn sich die Franzosen wirklich über etwas aufregen oder wenn
sie sich ungerecht behandelt fühlen (egal ob vom Staat, der Obrigkeit, dem
Arbeitgeber, der Politik), dann "olala". Beste Beispiele sind die südfranzösischen
Weinbauern, die aus Protest gegen die Billig-Importe spanischen Weins schon mal
Weintransporte aus dem Nachbarland stoppen und die Weintanks auf die Straße
entleeren oder die "Gilets jaunes", die Autobahnen und Kreisverkehre
blockieren, um ihren berechtigten Forderungen Ausdruck zu verleihen.
Und hier noch ein paar
Geschichten, die wir selbst erlebt haben und die das französische Leben
(vielleicht überspitzt) porträtieren
1. Der französische
LKW-Fahrer
In der Kleinstadt, in der wir lebten, bekamen wir ein
hervorragendes Beispiel für die französische Lebensart, oder sollte
man besser sagen Lebenskunst: Auf unserem eh schon engen "Busbahnhof"
hatte ein französischer Trucker-Fahrer seinen 40-Tonner einfach abgestellt,
die Warnblinkanlage eingeschaltet und war verschwunden. Busse und Autos stauten
sich, hektisch wurde gehubt und gestikuliert. Nach fünf Minuten kam der
französische Fahrer in aller Seelenruhe wieder, lächelte unschuldig,
hob wie als Entschuldigung eine Tüte mit Brötchen hoch, stieg ein und
fuhr weiter. Es war kurz vor zwölf Uhr. Zeit, für das Mittagessen zu
sorgen und ein Parkplatz für seinen großen LKW war einfach nicht
vorhanden. Was in Frankreich geduldig und verständnisvoll hingenommen
worden wäre, sorgte bei uns für Aufregung und Ärger und Unverständnis.
Schließlich kam man fünf Minuten zu spät an.
2. Die alte Dame und ihre
Gutscheine
In einem großen Supermarché bei Bordeaux:
Freitag nachmittag im August, 30 Grad im Schatten - außerhalb, ganz
Bordeaux kauft ein fürs Wochenende, Menschenmassen mit überquellenden
Einkaufswägen, lange Schlangen an den Kassen, endlich sind wir dran. Hinter
uns lauter Franzosen. Vor uns eine alte, einfach gekleidete Frau, wenig im Wagen
(Grund für uns, uns dort mit anzustellen). Als die Kassiererin ihr die
Summe des Einkaufs nennt, zieht die alte Dame einen Plastikbeutel heraus und
beginnt Unmengen von Gutscheinen, die auf den Verpackungen sind, sorgfältig
und genau auf dem Fließband auszubreiten. Gemeinsam mit dem Fräulein
an der Kasse sortiert sie diese, überlegt, welche sie einlösen könnte,
welche sie zurückhalten wollte, 15 Minuten dauert die Bezahlung. Was wäre
wohl bei uns in Deutschland da losgewesen! Ganz anders unsere französischen
Mitansteher. Man bewunderte die Sammellust der alten Frau, versicherte sich, das
in Zukunft doch auch zu tun und ansonsten erzählte man sich, was man heute
noch alles vorhabe, wie toll das Wetter sei und welche Sonderangebote es nächste
Woche gäbe. Geduldig und ohne Murren wartete man, bis man an die Reihe kam,
man hatte ja alles. Savoir-vivre.
3. Wohnwagen mit Loch
Die Geschichte spielte auf einem Campingplatz in der
Bretagne. Fast menschenleer. Da näherte sich ein französisches
Wohnwagen-Gespann und stellte sich genau vor unser Vorzelt. Ein riesiges Loch im
unteren Bereich des Wohnwagens ließen Milchkartons und andere Dinge
erkennen. Wie wir später erfuhren, hatte kurz nach der Abfahrt ein anderes
Auto den Caravan gerammt und das Loch gerissen. Jean-Roger, so hieß der
Besitzer überlegte, die 50 Kilometer nach Hause zurückzufahren und den
Urlaub dadurch zu beenden oder die 600 Kilometer in die Bretagne weiterzufahren.
Gottseidank entschloss er sich mit seiner Familie weiterzufahren, wir hätten
ihn sonst wohl nie kennengelernt. Er stellte die Milchkartons als Schutz vor das
Loch gegen den Fahrtwind und der Wagenheber wurde zur Stabilisierung der
Wohnwagenwand installiert. Improvisieren ist alles, typisch französisch.
4. Der Nachbar wird schon
aufpassen
Gleicher Jean-Roger stellte wenige Tage nach Ankunft
auf dem Campingplatz in der Bretagne einen Grill mitten in den Platz, errichtete
darauf einen Riesen-Scheiterhaufen, zündete ihn an, sprang mit der ganzen
Familie ins Auto und fuhr weg. Nervös holte ich den Feuerlöscher aus
dem Auto und setzte mich - mit einer Flasche Wein - auf Brandwache. Nach gut
einer Stunde, der Grill hatte eine hervorragende Glut, kam die französische
Familie wieder. Aus dem Kofferraum wurden alle möglichen Fleischspezialitäten
herausgeräumt und sogleich auf den Grill geschmissen. Ruckzuck war das
Abendessen fertig! Man war nur schnell ins 30 km entfernte Brest in einen
Supermarkt zum Einkaufen gefahren. Später auf diese Geschichte
angesprochen, meinte Jean-Roger mit einem Augenzwinkern: Was hätte schon
passieren können, wir haben ja gesehen, dass du aufgepasst. Noch heute
lachen wir herzlich über diese Geschichte.
Irgendwas muss schon dran sein an der französischen
Lebensart. Sicherlich ist sie von Region zu Region wie auch von Stadt zu Land
immer etwas anders, aber zusammen mit den anderen schönen Dingen
Frankreichs wie Landschaft, Kultur, Wetter, Wein, Essen, Meer und Sonne trifft
der Ausspruch "Leben wir Gott in Frankreich", den die Franzosen übrigens
so nicht kennen, unserer Meinung nach einfach zu.
Übrigens: Die Lebenserwartung in Frankreich beträgt
laut Statistik von Eurostat und OECD aus dem Jahr 2016 82,7 Jahre (Vergleich: In
Deutschland beträgt die Lebenserwartung 81 Jahre). Mit 79,5 Jahren bei Männern
und 85,7 Jahren bei Frauen ist sie höher als bei uns in Deutschland (Männer
78,6 und Frauen 83,5 Jahre).
©uew-2019-03